Montag, 22. Juli 2013

Die Kinder von Hamlin

Buchbesprechung Carter, Carmen: Die Kinder von Hamlin. Heyne, 1988/ 1990.

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Story: Die USS Enterprise NCC-1701-D ist mit einer mäßig spannenden Aufgabe betraut: Das majestätische Flaggschiff der Sternenflotte soll das Taxi für einen sturen Haufen hinterwäldlerischer Weltraum-Amish zu einem weit entfernten Kolonieplaneten spielen. Doch während dieser Routinemission entdecken die Sensoren des Raumschiffes einen Kampf in den vermeintlich leeren Weiten des benachbarten Sektors. Als sich die Besatzung unter dem Kommando Jean-Luc Picards der Szenerie nähert, muss sie entdecken, dass sich das Sternenflottenschiff USS Ferrel unmittelbar vor seiner Zerstörung befindet. Das gegnerische unbekannte Flugobjekt, ein seltsam anmutendes Gebilde aus schillernden Blasen, kann erst im letzten Moment davon abgebracht werden, das veraltete Schiff der Constellation-Klasse in einen Stück zusammengepressten Weltraumschrott zu verwandeln.
Nachdem es den Rückzug antritt, beginnt die Crew der USS Enterprise damit, die Überlebenden vom arg gebeutelten Sternenflottenkreuzer zu retten.Doch unter den erstaunlich überschaubaren neuen Passagieren befinden sich auch zwei Personen, die von den nur wenig redseligen übrigen Offizieren mit besonderer Abscheu bedacht werden. Schnell wird  Captain Picard bewusst, dass es sich bei Deelor und seiner Assistentin Ruth um Agenten des Sternenflottengeheimdienstes handeln  muss.
Ehe der Kommandant der Enterprise angemessen reagieren kann, übernimmt Deelor die Befehlsgewalt über das Schiff der Galaxy-Klasse. Er zwingt die Besatzung, an der Jagd auf den unbekannten Gegner teilzunehmen, weil er auf eine Beute der ganz besonderen Sorte hofft:
Die vor mhr als fünfzig Jahren auf mysteriöse Art und Weise verschwundenen Kinder einer Bergbaukolonie namens Hamlin...




Lobenswerte Aspekte: "Kann denn nicht einmal jemand  an die Kinder denken?!" Wer ein Buch erwartet hat, das Helen Lovejoys melodramatischer Aufmerksamkeitszuwendung für Heranwachsende teilt, wird eines Besseren belehrt, denn abgesehen von Wesley Crusher, einem mit diesem befreundeten, gleichaltrigen Nachfahren technophober Kartoffelbauern sowie einem zweijährigen Kaspar-Hauser-Waisen spielen Kinder in dem Buch keine wesentliche Rolle. Natürlich nervt der junge Superfähnrich ehrenhalber auch hier, doch im Vergleich zu so mancher TNG-Episode wirkt selbst der Jar Jar Binks des Star-Trek-Universums vergleichsweise sympathisch.
Autorin Carmen Carter, der es bereits mit ihrem Werk "McCoys Träume" gelang, lebhaft unter Beweis zu stellen, dass sie gute Star-Trek-Romane verfassen kann, beschrieb in der Danksagung, dass ihr im Vergleich zwischen beiden Werken in diesem Fall nur drei Monate zur Fertigstellung vergönnt waren (vgl. S. 287). Doch dieser immense Zeitdruck hat dem Buch unglaublich gut getan - es braucht den Vergleich mit ihrem Debüt keineswegs zu scheuen.
"Die Kinder von Hamlin" verfügt über eine vernünftige Kapiteleinteilung (keinesfalls eine Selbstverständlichkeit bei einem so frühen Star-Trek-Buch), spannende und wenig vorhersehbare Entwicklungen (gleichermaßen keine Selbstverständlichkeit bei einem so frühen Star-Trek-Buch) und trifft auch den Großteil der Charaktere zielsicher (ganz bestimmt keine Selbstverständlichkeit bei einem so frühen Star-Trek-Buch). Selbst der Umstand, dass Wesley Crusher hier den Androiden Data trotz dessen höheren Dienstgrades in seinen ausschweifenden Ausführungen abwürgt (vgl. S. 191), wirkt nicht deplatziert, sondern fügt sich nahtlos in die Geschichte eines Running Gags ein, der in ähnlicher Form des Öfteren in der Fernsehserie fiel. 
Die Handlung passt in die erste Staffel; nicht zuletzt, weil sich Carter Mühe gab, die 1988 noch spärlich gesäten Information zu einem großen Ganzen zu verbinden. So fallen mehrere Querbezüge auf Ereignisse innerhalb der ersten Staffel (vgl. z.B. S. 225, S. 40 oder S. 111), auf die Originalserie (vgl. S. 100) oder gar die stiefmütterlich gern unter den Tisch gekehrte Zeichentrickserie (vgl. S. 138). Darüber hinaus offenbart sie kassandrisch anmutende Weitsicht, denn ihre Konzeption des undurchsichtigen Geheimdienstlers Deelor riecht verdächtig nach Sektion 31.
Höhepunkt auch dieses Romans bleibt die fremde Spezies, um die sich die Ereignisse drehen. Die
Choraii sind eben kein Volk, die einem heutzutage gängigen Verständnis von Staatlichkeit entsprechen, sondern verkörpern etwas wirklich Fremdartiges, dass sich nicht so ohne Weiteres mit menschlichem Bewertungsmaßstäben erfassen lässt. Diese erfrischend reizvolle Unvertrautheit setzt sich in Schiffsbau, Wohnsituation und Handelsstruktur fort und auch wenn der ein oder anderen Aspekt an Klassiker wie "Abyss - Abgrund des Todes" oder "Unheimliche Begegnung der dritten Art" denken lässt, bleiben die Choraii selbst nach der letzten Seite ein fortwährendes Mysterium.

Kritikwürdige Aspekte: Nicht nur hierzulande, sondern vor allem auch in den USA erfreut sich die Legende des "Rattenfängers von Hameln" einer großen Beliebtheit. Deutschstämmige Einwanderer brachten die Erzählung an das gegenüberliegende Ufer des den große Teichs, wo sie bis heute bei Schulaufführungen, in Kinderbüchern oder Trickfilmserien regen Zuspruch findet. Nur der für englischsprachige Zungen vergleichsweise sperrige Ortsname 'Hameln' wurde in ein flotteres 'Ham(e)lin' umgewandelt.
Ob der Popularität dieses Themas verwundert es also nicht sonderlich, dass irgendwann einmal jemand darauf gekommen ist, diesen Stoff auch als Grundlage für eine Star-Trek-Geschichte zu adaptieren.
Daher richtet sich mein Vorwurf auch nicht an die Verwendung des Topos', sondern viel eher an der all zu deutlichen Offensichtlichkeit. Immerhin stellt es schon einen immens großen Zufall dar, dass ausgerechnet in einer Kolonie mit dem Namen 'Hamlin' Kinder entführt werden (vgl. S. 56). Um die Wahrscheinlichkeit noch mehr zu strapazieren, nutzt das edelmetallsüchtige Kidnappervolk auch noch ausgerechnet virtuoses Flötenspiel zur Kommunikation (vgl. S. 132). Obgleich sich eine solche literarische Verarbeitung normalerweise problemlos an einen Leser verkaufen lässt, wirkt sie bei einer Science-Fiction-Geschichte im Star-Trek-Universum völlig unangebracht. Immerhin lebt ganz besonders diese Franchise davon, ein idealisiertes, aber dabei doch glaubhaftes Bild der Zukunft zu vermitteln. Dieser allzu offensichtliche Kunstgriff jedoch rüttelt an dieser Glaubwürdigkeit und stellt das Werk damit in einen krassen Gegensatz zu dem, was 'StarTrek' eigentlich ausmacht.
Schließlich möchte man in diesem Universum auch nicht unbedingt von einem Enterprise-Noteinsatz beim Lummer-Planeten lesen, auf dem die Absturzüberlebenden James Button und sein Kompagnon Luke aus den Wrackteilen Schienenfahrzeuge bauen und auf der einzigen, mit zwei markanten Erhebungen ausgestatteten Landmasse ein umfassendes Nahverkehrsnetz aufbauen und damit die Oberste Direktive verletzen (obwohl ich zugeben muss, dass das jetzt irgendwie reizvoller als beabsichtigt klingt).



Ein wenig mehr Subtilität im Umgang mit einem solchen kulturellen Allgemeinplatz hätte dem Star-Trek-Roman schlichtweg besser zu Gesicht gestanden.
Ferner bleibt eine Person von den ansonsten sehr treffend geschilderten Charakteren ausgenommen:
Doktor Beverly Crusher ähnelt in ihrer Anlage zu sehr an ihre Nachfolgerin Doktor Katherine Pulaski.
Der von Diana Muldaur porträtierte Schiffsarzt wurde ihrerseits an einem anderen prominenten Vorbild orientiert:
Doktor Leonard McCoy.
So muss man hier miterleben, wie die Medizinerin erschreckend raubeinig gegenüber Patienten (vgl. z.B. S. 127, S. 165 oder S. 195) und erschreckend schroff gegenüber ihren Kollegen agiert (vgl. z.B. S. 157, S. 163 oder S. 175). Zudem entwickelt sie einen stark von ihrem Wesen abweichenden Hang zu brachialen Flüchen (vgl. S. 135 oder S. 157) und Bibelreferenzen (vgl. z.B. S. 174 oder S. 185), der eher der allseits bekannten Südstaatlermentalität eines bestimmten 'einfachen Landarztes' entsprechen würde und sobald ihr der Satz "Er ist tot." (S. 52) über die Lippen kommt, liest man im Geiste ohnehin schon längst ein "Jim" bzw. "Jean-Luc" mit.

Übersetzung: "Die Kinder von Hameln" – zugegeben, dass klingt trotz der geringen Buchstabenabweichungen gleich einige Nuancen weniger 'cool' als "Die Kinder von Hamlin".
Aber entgleitet damit der deutschen Sprache nicht bereits zum zweiten mal ein verlorenes Kind?
Immerhin handelt es sich um eine mehr als fünfhundert Jahre alte Sage, die ein wesentliches Produkt der hiesigen Kulturlandschaft darstellt. Schon allein aus diesem Grund müsste sich die deutsche Namensherkunft aufzwängen, zumal die Namen der Choraii-Schiffe ohne Rücksicht mit den damit verbundenen Wortspielen auch in unsere Sprache übertragen wurden (vgl. S. 107 und S. 265).
Andererseits umgibt den deutschsprachige Leser damit immerhin auch ein wohlwollender Hauch der Entfremdung, der die Rattenfänger-Thematik weniger offensichtlich ausfallen lässt. Während das Original also mit dem Holzhammer die Handlungsanleihen vorwegnimmt, nötigt das Werk in seiner Übersetzung seinem Rezipienten immerhin etwas Puzzlearbeit ab.
Ich kann daher nicht genau sagen, ob der Titel nun gut oder schlecht gewählt ist. Bei einem vollständig deutschen Titel hätte ich diesen Unterpunkt aber wohl gar nicht erst mitaufgenommen.

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Dafür gibt es an anderen Stellen genug zu kritisieren.
In allerbester Heyne-Tradition wird da eine eigene, von der deutschen Synchronisation unbeeindruckte Neusprech-Version eingeführt, die fremde Wörter (vgl. z.B. "Insignienkommunikator" S. 9, "Diskussegment" S. 22 oder "Galaxis-Klasse" S. 81), unbekannte Anglizismen (vgl. z.B. "Starbase" S. 15, "Starfleet Command"S. 53, oder "Horizon-Injektion" S. 105) und neue Rechtschreibfehler (vgl. z.B. "Förderations-Ingenieure" S. 25, "Sie haben fast einen Monat in Starbase 10 gewartet, […]" S. 63 oder "darn" S. 210) beinhaltet.
Der Verlag dringt dabei in grammatische Untiefen vor, die kaum ein Mensch zuvor für möglich gehalten hat:
Wie oft kann man den fürchterlichen Begriff "desaktivieren" wohl verwenden (Antwort: sechs Mal; z.B. S. 32, S. 130 oder S. 274)?
Wie viele Wörter lassen sich möglichst unsinnig mit dem Präfix "Medo-" kombinieren (Antwort: zehn Kombinationen; z.B. "-Jacke" S. 8, "-Akte" S. 91 oder "-Block" S. 202?
Und kann man Picards "Engaged!" noch langweiliger als mit "Energie!" übersetzen (Ja! mit "Transit." S. 167)?
In einem ist die Arbeit Andreas Brandhorsts allerdings ihrer Zeit voraus:
Obwohl dieses Buch erst 1990 erschien, wendet es bereits Schreibweisen an, die erst mit der Rechtschreibreform aus dem Jahr 1996. So erscheinen Begriffe wie "Cousine" oder "Holographie" in vorauseilendem Gehorsam bereits in diesem Werk als "Kusine" (S. 34) oder "Holografie" (S. 218).

Anachronismen: Eine Geschichte wie des Rattenfängers von Hameln in die ferne Zukunft zu transportieren, ist keine leichte Aufgabe. Doch dieses Buch legt sich selbst Steine in den Weg, in dem es auf Begrifflichkeiten zurückgreift, die schon heute nach finsterem Mittelalter klingen. Eine Zukunft für die man "Blätter des Ausdrucks" (vgl. S. 73), ein "Kassette" (vgl. S. 127) oder gar ein "Druckerterminal" (vgl. S. 188) benötigt, entzieht sich meiner Vorstellung des 'unentdeckten Landes' bereits. Schon erstaunlich, wie sich dieses Bild von den ausgehenden Achtzigern bis heute gewandelt hat.
Während für diesen Wandel der Zukunftsrezeption allerdings niemand ernsthaft verantwortlich gemacht werden kann, gibt es einige Widersprüche zum offiziellen Kanon, die bereits mit einem genaueren Blick auf die damals laufende erste Staffel hätten verhindert werden können.
So sollte eine Besatzungsstärke von sechsundvierzig bei einem Schiff der Constellation-Klasse eigentlich keine größere Verwunderung bei Picard auslösen (vgl. S. 40 und S. 47), dessen Bereitschaftsraum-Maskottchen Livingston übrigens auch kein "Löwenfisch" (S. 65), sondern ein Rotfeuerfisch ist.
Außerdem konnte der aufmerksame Zuschauer gleich in der dritten Episode "Der Wächter" den Erstkontakt der Föderation mit den Ferengi miterleben, weswegen es merkwürdig anmutet, dass diese Spezies bereits fünfzehn Jahre vor dieser Folge menschliche Sklaven an die Sternenflotte veräußert haben soll (vgl. S. 76). Vom Gebrauch längst überholter Geldmittel (vgl. S. 64) will ich an dieser Stelle gar nicht erst anfangen.
Allein dass Beverly Crusher auf einer landwirtschaftlichen Kolonie geboren sein soll (vgl. S. 283) wurde erst in "Mission ohne Gedächtnis" widerlegt. Laut den Angaben aus der fünften Staffel stammt die Chefärztin nämlich vom Mond.
Die Anachronismen halten sich eigentlich in Grenzen, weswegen es schade ist, dass "Die Kinder von Hamlin" sich die größten Stolpersteine selbst in den Weg legt.
So wirkt es schlichtweg unglaubwürdig, dass ein simpler Code aus sieben Ziffern genügt, um das gesamte Logbuch eines Captains einzusehen (vgl. S. 132). Zudem wird überhaupt nicht darauf eingegangen, dass in der flüssigen Atmosphäre eines Choraii-Schiffes Musik völlig anders als etwa auf der Brücke eines Sternenflottenschiffes klingen müsste (vgl. z.B. S. 132ff., S. 151 oder S. 160). Ferner fehlt es an einer Erklärung, warum die USS Enterprise - an einer Sternenbasis angedockt – die mürrischen Landeier aus Neu Oregonia mit Shuttles an Bord bringen musste (vgl. S. 192). Hat es ihr ebenfalls (für ein Roddenberry-Universum) reichlich anachronistisch anmutende Glaube (vgl. S. 233) ihnen verboten, heidnische Luftschleusen zu benutzen?

Fazit: Für ein so frühes Buch bietet "Die Kinder von Hamlin" erstaunlich hochwertige Unterhaltung. Die Charaktere treffen den Ton, die Handlung ist abwechslungsreich und mit den wirklich fremdartigen Volk der Choraii gelang der Autorin trotz Zeitdruck ein wirklich großer Wurf.
Der allzu offensichtliche Umgang mit der Thematik "Rattenfänger von Hameln", die schwache Übersetzung und vor allem die Logiklöcher, die Carter selbst in ihr Werk riss, mindern die Harmonie dieses Buches etwas. Dennoch bleibt es gerade im Hinblick auf seine Entstehungszeit ein überraschend angenehmer Höhepunkt unter den Frühwerken der TNG-Literatur.

Denkwürdige Zitate:

"Merde."
Jean-Luc Picard, S. 31

"Verschwenden Sie Ihr Glück nicht an uns. Behalten Sie es, Captain Picard. Sie brauchen es sicher dringender als wir."
Commander D'Amelio, S. 70

"Wenn man die Zeit hat, ein Projekt zu einem guten Abschluss zu bringen, so kann man sich ebenso gut die Mühe geben, Großartiges zu leisten."
William T. Riker, S. 102

"Manchmal ist die Verpackung wichtiger als der Inhalt."
Riker, S. 108

"Ich bin nicht gekommen, um zu arbeiten."
Wesley Crusher, S. 177

Bewertung: Eine Vier-Sterne-Melodie.

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1 Kommentar:

  1. Tolle Kritik voll guter Argumente.
    Allerdings sitzt Du einem Denkfehler auf: Warum sollte es wahrscheinlicher sein, dass die Kinder einer Kolonie mit einem anderen Namen entführt werden als die einer Kolonie namens Hamlin? Laut Wahrscheinlichkeitslehre sind "passende" Zufälle genauso wahrscheinlich wie "unpassende".

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