Montag, 1. November 2010

Die Flucht

Rusch, Kristine Kathryn; Smith, Dean Wesley: Die Flucht. Heyne, 1995/1996.

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Story: Auf ihrer recht verzweifelten Suche nach Ersatzteilen für Sternenflottentechnologie (die ohnehin nicht für eine Lebensdauer von mehr als einer Staffel konzipiert worden zu sein scheint) nutzt die USS Voyager einen Raumschifffriedhof gigantischem Ausmaßes, um ihren schier unersättlichen Hunger nach Rohstoffen zu stillen.
Doch Captain Janeways Crew hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der vermeintlich tote Planet, der den Wracks als letzter Ruheplatz dient, vertreibt potentielle Grabräuber mit paranormalen Aktivitäten.
Kurz gesagt: Es spukt.
Aber abgesehen davon, dass Gespenster unlogisch sind, gibt es noch einen weiteren Grund für die Crew, nicht panisch das Weite zu suchen. B'Elanna Torres, Harry Kim und Neelix sind auf einer Erkundungsmission plötzlich verschwunden und wecken dadurch den Beschützerinstinkt ihres Captains, die so viele ihrer Schäfchen wie nur möglich ins Trockene (also in den heimatlichen Alpha-Quadranten) zu bringen versucht.
So überführt sie den vermeintlichen Geist als getarnten Humanoiden und erfährt nach und nach die ganze Wahrheit. Die drei vermissten Besatzungsmitglieder wurden in die Vergangenheit entführt und dank des impulsiven Temperaments der Halbklingonin B'Elanna längst hingerichtet...

Lobenswerte Aspekte: „Die Flucht“, aus der Feder Kristine Kathryn Ruschs und ihres Ehemannes Dean Wesley Smiths, ist der erste eigenständige Roman der Fernsehserie Star Trek Voyager, denn der eigentlichen Nummer zwei ging lediglich die „Der Beschützer“ benannte Novellisation des Pilotfilms „Der Fürsorger“ voran.
Für dieses frühe Stadium, in dem selbst die Fernsehserie noch nicht so richtig wusste, in welche Richtung man sich einmal entwickeln würde, gelang dem Ehepaar ein hervorragendes und außergewöhliches Buch.
Bedenkt man, dass lediglich der Pilotfilm als Vorlage für Charaktere, Situation und mögliche Problemstellungen zur Verfügung stand, ist es besonders beachtenswert, wie treffend ausnahmslos alle Figuren geschildert sind. Nahtlos fügt es sich in die Aufbruchsstimmung der noch jungen ersten Staffel und wer will, kann die Handlung sogar als fehlendes Puzzlestück zur späteren Annäherung B'Elannas an die rigiden Sternenflottenrichtlinien deuten (vgl. S. 231).
Selbst der hin und wieder eingestreute Humor braucht den Vergleich mit dem Original nicht zu scheuen (vgl. z.B. Denkwürdige Zitate) und passt stets gut zu den einzelnen Personen und wäre dieses Buch eine Folge, so würde sie sicherlich problemlos in die erste Hälfte der ersten Staffel passen.
Die Lücke, die Rusch und Smith durch das Fehlen anderer Voyager-Episoden (außer dem Pilotfilm) beschert wurde, stopfen sie geschickt mit Referenzen auf andere Serien. So entleiht man TOS die inneren Lider der Vulkanier aus „Spock außer Kontrolle“ (vgl. S. 178) oder den phasenverschobenen Tarntechnologie aus den TNG-Folgen „So nah und doch so fern“ und „Das Pegasus-Projekt“ (vgl. S. 192).
Vergleichsweise erfrischend neu ist der Umgang mit dem doch inzwischen recht ausgeblichenen Thema des Zeitreisens, denn die Autoren verfolgen mal einen vergleichsweise neuen Ansatz:
Die verschiedenen Zeitepochen und Paralleluniversen eines Planeten werden als Siedlungsraum einer aus allen Nähten platzenden Zivilisation genutzt. Kombiniert mit der Möglichkeit, Fehlentwicklungen und plötzliche Veränderungen durch gezielte Zeitsprünge zu unterbinden, ergibt dies eine spannende Situation, zumal die Strafen innerhalb der Gesellschaft der Alcawellianer ähnlich drakonisch ausfallen, wie die der Edo.
Ein Detail gefiel mir schließlich besonders: Die anfängliche Abneigung gegen ein auf den ersten Schluck so abstoßendes Getränk wie Kaffee (vgl. S. 123) empfand ich als logisch und nachvollziehbar für einen Außerirdischen, der ja noch nie mit so etwas in Kontakt gekommen ist. Seine spätere Gewöhnung an Koffein (vgl. S. 156) fand ich einerseits persönlich zwar nachvollziehbar, andererseits störte mich schon, dass Koffein in der gesamten Milchstraße die gleiche Wirkung zu haben scheint, obwohl es so viele physiologische Unterschiede zwischen den verschiedenen Spezies gibt.

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Unverzichtbarer Exportschlager der Erde?

Kritikwürdige Aspekte: Womit wir auch bereits bei den Kritikpunkten angelangt wären.
Zwar konnten Rusch und Smith unmöglich wissen, dass es einmal soweit kommen würde, doch instinktiv nutzten sie ein Motiv, dass bereits früh an Voyager störte.
Zu Beginn vieler Episoden ist die Besatzung nämlich auf der Suche nach irgendeinem Ersatzteil, Rohstoffen zur Herstellung wichtiger Schiffskomponenten oder Materialien, die zur Wartung der Sternenflottentechnologie dienlich sein könnten.
Man fragt sich im Verlaufe der Serie schon irgendwie, warum die USS Enterprise NCC-1701-D nicht jede zweite Episode im Raumdock zubrachte, um die empfindlichen Systeme neu zu überholen.
Das setzt sich nämlich hier fort. Allerdings ist das Objekt der Begierde nicht etwa irgendeine wichtige Substanz wie Dilithium, Omicron-Partikel oder das 247. Element, sondern „Armalkolit“, das unablässig sein soll, „[...] um die oltionischen Schaltkreise eines Warpprozessors zu reparieren“ (S. 7). Nicht nur, dass dieser Umstand dem bekannten 'Strickmuster F' entspricht; den Höchstgrad an sinn- und gegenstandslosem Technobabbel erreicht es ebenfalls spielend.
Wenn es überhaupt einen solchen Warpprozessor geben sollte, was sind dann seine Aufgaben? Wieso muss er unbedingt aus diesem Material beschaffen sein?
Und vor allem:
Warum wurde dieses Stück Technik zuvor noch nie erwähnt?
Ganz einfach:
Weil es horrender Unsinn ist und nur ein schwaches Motiv sein soll, den Raumschifffriedhof anzufliegen, den Neelix gerade einmal vom Hörensagen kennt!
Gleichsam anstrengend sind auch die vielen Bemerkungen, die dazu dienen sollen, die eventuell noch nicht so bekannten Figuren einzuführen.
Dazu mal drei Beispiele:

Er [Tuvok] sprach immer sehr deutlich.“ (S. 8)

Zwar mangelte es ihm [Kim] noch an Erfahrung, aber er war bereits ein tüchtiger Offizier.“ (S. 13)

Sie [Janeway] wußte es mit der gleichen Gewißheit, die sie schon einmal empfunden hatte: als sie das Gebot der Ersten Direktive achtete und entschied, im Delta-Quadranten zu bleiben, anstatt den leichten Weg nach Hause zu nehmen.“ (S. 213/214)

Das sind weniger sinnvolle Informationen als vielmehr vernachlässigungswürdige Allgemeinplätze, die den Lesefluss unterbrechen und erst recht fehl am Platz wirken, wenn man die Crew des Schiffes kennt.
Mildernde Umstände können natürlich aus dem Grund geltend gemacht werden, dass dieses Frühwerk, wie die Bezeichnung es bereits nahelegt, sehr früh erschienen ist. Diese Punkte stören also in erster Linie den Leser von Heute, für den Voyager längst eine Fernsehserie ist, die bereits vor vielen Jahren abgeschlossen wurde und längst zu den Grundsäulen der Franchise zählt.
Will man andere Kritikpunkte finden, muss man schon die Übersetzung heranziehen oder die Figur des verkappten Bösewichts Kjanders.
Dieser Charakter ist nämlich schlichtweg überflüssig. Wenn er wenigstens, wie angekündigt, das Schiff übernommen oder zumindest einen Versuch dazu unternommen hätte!
Stattdessen mimt er einen faden Touristen mit Heimweh, dessen einziger Daseinszweck in der Weitergabe von vermeintlichen Insiderinformationen besteht. Verschenktes Potential, das der Handlung noch zusätzlichen Zündstoff verliehen hätte und somit zwar eine solide Geschichte, jedoch keine wirklich außergewöhnliche Entwicklung abliefert.
Denn wenn tote Besatzungsmitglieder und Zeitreisen in einem Buch auftauchen, kann man sich ohnehin an einem Finger abzählen, dass am Ende nichts geschehen wird, was den Verlauf der Serie beeinflussen könnte.

Übersetzung: Mit einer neuen Serie gab es für Heyne scheinbar keinen Grund, von ihrem eigensinnigen und der Synchronisation abweichenden Vokabular abzusehen. So liest man also auch im Deltaquadranten von „Starfleet“ (S. 9), statt der 'Sternenflotte', vom „Insignienkommunikator“ (S. 23) statt dem 'Kommunikator' oder der „Landegruppe“ (S. 49) statt des 'Außenteams'.
Neu ist lediglich die Bezeichnung „Maquisard“ (S. 231) für ein Mitglied des Maquis'.
Umso erstaunlicher ist die Inkonsequenz, mit der dieses Beharren auf falschen Ausdrücken betrieben wurde. Zum einen liest man plötzlich „deaktivieren“ (S. 131) statt des in vorherigen Büchern so oft verwendeten 'desaktivieren'.
Zum anderen liest man zwar dauernd von „Medo-Abteilung“ (S. 194),„Medo-Parametern“ (S. 203) oder „Medo-Tricorder“ (S. 230), doch der Doktor scheint noch nicht allzu sehr von diesem Präfix-Attentat betroffen zu sein. In diesem Werk nennt man ihn wahlweise „Medizinisches (!) Notfallprogramm“ (S. 204) oder gar „[...] das für den Notfall bestimmte holographische Medo-Programm [...]“ (S. 190).
Eine wahre Qual für Augen und Hirn gleichermaßen.

Anachronismen: Rusch und Smith lassen den armen Neelix recht alt aussehen.
Dessen vor 17 Jahren geschilderte Erlebnisse (S. 96) würden in eine Zeit hineinreichen, in der er noch auf Rinax gelebt haben müsste, und der Mond noch nicht von den Haakonianern zerstört worden war.
Doch wer weiß, vielleicht haben ja Neelix' Eltern den Jungen auf diesen „Ausflug“ mitgenommen.
Böse Nachrede ist allerdings zu behaupten, dass deren Spezies mehr Schlaf als Menschen brauchen würde. Neelix Ruhebedürfnis steht nämlich selbst in Folgen wie „Wache Momente“, „Nacht“ oder „Eine“ dem seiner Kollegen in nichts nach.
Auffällig ist ferner, dass im Roman ständig vom Holodoc als „Dr. Zimmerman“ gesprochen wird. Bis zum Serienfinale "Endspiel" gelingt es dem Doktor nämlich gar nicht, sich einen passenden Namen zuzulegen, weshalb es schon verwundert, warum ihn alle Welt anspricht, als würde es sich um den in „Das Holosyndrom“ erstmals erspähten Erfinder des Programms selbst handeln.
Den Grund dafür konnte ich von Robert Picardo, dem Darsteller des MHNs selbst erfahren. Dieser war nämlich im Zuge einer Veranstaltung unter dem Titel „Meet your Star“ am letzten Oktoberwochenende 2010 in Mannheim zu sehen.
Dort beschrieb er auf mein Nachfragen, dass er Rick Berman selbst ausredete, den Doktor, der bereits im Script zu „Der Fürsorger“ als 'Dr. Zimmerman' geführt wurde, zunächst einmal im Vorspann zu benennen und später überhaupt mit einem Namen zu versehen. Picardo gab zu Protokoll, dass andernfalls spätestens ab Mitte der ersten Staffel der Nachname auch auf das Hologramm übertragen worden wäre und nur noch der Wunsch nach einer Bezeichnung in „Das Nadelöhr“ von diesen frühen Plänen zeugt.
So gesehen konnten Rusch und Smith, denen scheinbar das Script zum Pilotfilm zur Verfügung stand, noch nicht absehen, dass die persönliche Intervention des Schauspielers ihnen hier einen Strich durch die Rechnung machen würde.

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Der Hauptgegner des Namens 'Zimmerman' (links im Bild)

Fazit: „Die Flucht“ ist ein etwas holziger Star-Trek-Roman, in dem wieder einmal typische Klischees aus der Voyager-Anfangszeit bedient werden. Die Suche nach Rohstoffen bildet den Ausgangspunkt der Erzählung, sinnfreies Technobabbel die Grundlage und Widersprüche kratzen an den Biografien der Charaktere. Auch die Übersetzung ist ein trauriges Zeugnis des Beharrens auf eigenen Fehlern.
Sieht man darüber hinweg, so bietet sich der Blick auf eine außergewöhnliche Handlung über Zeitreisen und auf Charaktere, die sehr einfühlsam und sogar humorvoll ins Licht gesetzt wurden. Der erste eigenständige Roman zur Voyager-Serie ist ein vielversprechender Start, der sich zu lesen lohnt.

Denkwürdige Zitate:

Außerdem … Wer hat Angst vor ein paar Geistern?
Janeway, S. 19

Inzwischen kenne ich die Menschen gut genug. Daher weiß ich, Ahnungen basieren häufig auf falsch verarbeiteten Informationen. Vermutlich haben Sie etwas bemerkt, das Sie nicht verstehen. Doch ein verborgener Teil von Ihnen ist vernünftig genug, es für wichtig zu halten.
Lieber Himmel. Ich glaube, Sie haben mich gerade beleidigt.
Logik ist nie persönlich.
Ja. Aber ihre Anwendung kann recht persönlich werden.
Tuvok und Paris, S. 136

Bewertung: Verheißungsvoller Start!

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1 Kommentar:

  1. Hallo Turon47.

    Danke für die schöne Rezi. Sehr gut gefallen mir die Stellen Deiner Koffeinkritik aufgrund unterschiedlicher Physiognomien und die Meet-the-Picardo-Einstreuung. Ich hoffe, Ihr hattet ein schönes WE in Mannheim.
    LG und bis bald!

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